Rede zum 1. Mai

Von Judith Schmid

Heute vor einer Woche erreichte mich eine schreckliche Nachricht: Nördlich von Lesvos, einer griechischen Insel nicht weit von der türkischen Küste entfernt, ist ein weiteres, überfülltes Boot gesunken. Viele Frauen, Männer und Kinder konnten nur noch tot geborgen werden. Leider, wie wir alle wissen, ist das kein schlimmer Einzelfall, sondern trauriger Alltag: Seit Anfang 2017 sind bereits wieder über 1000 Menschen auf der Flucht vor Krieg und Zerstörung im Mittelmeer ertrunken. In den Medien werden diese Todesfälle kaum mehr erwähnt.  

Anders war dies im Herbst 2015:  Alle sprachen nur noch über eine „Flut“ von Menschen, die Europa quasi „überschwemmen“ würde. Eine Million Schutzsuchende erreichten in diesem Jahr europäischen Boden. Zum Vergleich: Weltweit sind zurzeit über 63 Million Menschen auf der Flucht. Die meisten von ihnen finden im eigenen Land oder in einem Nachbarsstaat Zuflucht. Die Hauptaufnahmeländer sind immer noch die Türkei, der Libanon und Pakistan.

In der Schweiz baten 2015 knapp 40’000 Menschen um Asyl. Das sind weniger als während der Kriege in Ex-Jugoslawien. Im letzten Jahr waren es dann nur noch 27’000 Gesuche. Von rechten Politikerinnen und Politikern wird das Thema aber bis heute ausgeschlachtet. Es wird populistische Hetze gegen Schutzsuchende betrieben, offener Rassismus ist in weiten Teilen der Gesellschaft im Nu wieder salonfähig geworden. Schutzsuchende Menschen werden als „Asylschmarotzer“ diffamiert, als „Scheinasylanten“, die sich hier nur bereichern wollen, hingestellt.

Anfang 2016 machte dann Europa dicht: Zuerst wurde die sogenannte Balkanroute von Griechenland nach Nordwesteuropa geschlossen, etwas später dann die Passage über die Ägäis zwischen der Türkei und Griechenland. Dabei wurde auch ein Deal mit dem türkischen Autokraten Erdogan nicht gescheut. Die Folge ist eine neue traurige Höchstzahl: Über 5000 Ertrunkene auf der massiv längeren Route im zentralen Mittelmeer zwischen Libyen und Italien in einem Jahr. Jetzt soll aber auch dieser Weg geschlossen werden – ohne im Gegenzug sichere Passagen anzubieten – obwohl bekannt ist, dass tausende Menschen in den Auffanglagern in Libyen massiven Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. 

Auch die Schweiz zieht mit: Die Grenze zu Italien wurde im letzten Sommer für Menschen auf der Flucht praktisch geschlossen. Die Grenzwache wiederholt stetig, dass all diese Menschen, die versuchen ins Tessin einzureisen, nach Deutschland weiterreisen wollen und die Schweiz gemäss Dublin-Abkommen halt kein mögliches Transitland sei. Von verschieden NGOs vor Ort wissen wir aber, dass auch Menschen nach Italien zurückgeschickt werden, die in der Schweiz einen Asylantrag stellen wollen. 

Die Schweiz also, mit ihrer hochgelobten humanitären Werten, verwehrt diesen schutzsuchenden Menschen auf der Flucht vor Krieg, Hunger, Diskriminierung und Armut ihr Recht auf ein faires Asylverfahren. 

Gleichzeit exportiert die Schweiz Kriegsmaterial in Länder wie Saudi-Arabien und heizt so aktuelle Konflikte mit an. Aber nicht nur die Schweizer Waffenexporte sind höchst problematisch. Dadurch, dass die Schweiz als einer der grössten Finanzplätze weltweit mehrere Milliarden Franken in die internationale Kriegsmaterialproduktion investiert, trägt sie definitiv nicht dazu bei, dass unsere Welt friedlicher wird, im Gegenteil. Wir profitieren davon, dass Waffen produziert und exportiert werden, die dann in Kriegen gegen unschuldige Menschen zum Einsatz kommen. 

Auch der Überfluss an Konsumgütern im globalen Norden führt nicht zu mehr sozialer Gerechtigkeit weltweit. Viele Menschen des globalen Südens arbeiten unter extrem schlechten Bedingungen, werden gezwungen, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen und verdienen dabei gerade mal einen Hungerlohn. Dafür sind unsere Schänke voll mit günstigen Kleidern aus Fernost und neu auch aus Osteuropa. Und den Kaffee können wir teuer in designten Kapseln kaufen. Kaffee, der zu so niedrigen Preisen angebaut wird, dass die Kaffeebauern ihre Kinder statt zur Schule auf die Plantagen zum Arbeiten schicken müssen. 

Oder das Thema Landgrabbing: Um Rohstoffe für elektronischen Geräte, Smartphones und Laptops zu ergaunern, werden weltweit unzählige Menschen durch Grosskonzerne aus ihren Dörfern vertrieben und um ihr Land betrogen. Nicht gerade wenige dieser Konzerne, die dabei profitieren, haben ihren Hauptsitz in der Schweiz.

All diese Tatsachen liegen auf der Hand. Bei der Debatte um die Fluchtursachenbekämpfung werden sie aber systematisch ausgeblendet. An erster Stelle, also quasi als die Hauptfluchtursache, werden von vielen immer noch die Schlepper genannt. Das ist einfach nur zynisch! Die Menschen, die dazu gezwungen werden, ihr Land zu verlassen, sind Opfer des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Ein System von dem wenige massiv profitieren, während viele andere ihre Lebensgrundlage verlieren. Zurzeit besitzen 8 Männer gleich viel wie Hälfte der Weltbevölkerung.

Doch was sollen wir tun? Was können wir tun? Oder was müssen wir tun? 

Wir können uns mit den Menschen auf der Flucht solidarisieren, und ihnen direkt unsere Unterstützung anbieten: mit einem Einsatz in einem Camp am Rande Europas zum Beispiel, wo ständig Helferinnen und Helfer gesucht werden. Oder wir sammeln Hilfsgüter und schicken sie dorthin, wo sie am dringendsten gebraucht werden, wie wir das bei Stand Up for Refugees tun. 

Wir können auch hier viel machen: Wir können uns mit den Asylsuchenden verbünden, ihnen unsere Sprache beibringen, mit ihnen unsere Freizeit verbringen. Und wir können uns auf politischer Ebene für sie einsetzen, indem wir ihre Situation kritisch im Blick behalten, etwa was ihre Unterbringung angeht. Oder wir unterstützen sie bei rechtlichen Fragen. Und wir können uns gegen Vorurteile und Pauschalaussagen in der Gesellschaft stellen, indem wir geschickt und faktenbasiert argumentieren. Wir müssen dagegen kämpfen, dass die geflüchteten Menschen gegen die Arbeiterinnen und Arbeiter hier in der Schweiz ausgespielt werden. 

All das sind wichtige und hilfreiche Massnahmen. Doch letztendlich bleiben sie Symptombekämpfung.

Deshalb, und das ist wohl das wichtigste, müssen wir uns für eine Welt einsetzten, auf der nicht mehr 63 Millionen Menschen gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen. Denn auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, als wäre der sehnlichste Wunsch dieser Menschen, hier einen sicheren Ort zu finden, war wohl ihr grösster Wunsch ein anderer gewesen: nämlich, dass sie ihre Heimat gar nicht hätten verlassen müssen. 

Das gilt nicht nur für die Menschen, die vor Kriegen flüchten, das gilt auch für die armutsbetroffenen Menschen aus Nord- und Westafrika, und für Menschen aus Osteuropa, die hier fernab von ihren Familien schuften, für einen Lohn am Existenzminimum oder tiefer, bei miserablen Arbeitsbedingungen. Wir müssen uns dagegen auflehnen und gleichen Lohn am gleichen Ort für die gleiche Arbeit fordern, egal woher die Arbeiterinnen und Arbeiter kommen. 

Und: Wir haben es in der Hand, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Wir können zum Beispiel die Kriegsgeschäfte-Initiative unterschrieben, die die direkte und indirekte Finanzierung von Kriegsmaterialproduzenten verbieten will. Getragen wird diese Initiative übrigens von einem Bündnis, zu dem auch Stand Up vor Refugees und die PdA gehören. Jede Unterschrift ist wichtig!

Wir können uns auch für die Konzernverantwortungsinitiative engagieren: Diese will verbindliche Regeln für Konzerne mit Sitz in der Schweiz zum Schutz von Mensch und Umwelt einführen – auch bei Auslandstätigkeiten.

Während Menschen in anderen Ländern ihr Leben für die demokratische Mitbestimmung riskieren, ist es nun an der Zeit, dass wir unsere Möglichkeit zur Mitbestimmung wieder vermehrt wahrnehmen und uns bei allen Abstimmungen und Wahlen aktiv beteiligen.

Schwieriger auf institutionellem Weg etwas zu erreichen, ist der Kampf gegen die geplanten Freihandelsabkommen. Wenn der Service Public immer mehr privatisiert wird, wie es zum Beispiel das Freihandelsabkommen TISA vorsieht, wird der Zugang zu Bildung, zu medizinischer Versorgung und schliesslich auch zu sauberem Trinkwasser nur noch für wenige garantiert sein. Vor allem der globale Süden würde unter einem solchen Abkommen leiden. Afrikanische Staaten hätten zum Beispiel keine Möglichkeit mehr, sich gegen Landraub zur Wehr zu setzen.

Weil die ganzen Verhandlungen zu TISA aber hinter verschlossenen Türen stattfinden, müssen wir wieder vermehrt auf der Strasse aktiv werden und unsere Meinung laut und deutlich kundtun, nicht nur zu TISA, sondern zu allen diesen Themen, die heute angesprochen wurden. Denn: Wenn Unrecht zu Recht wird, dann ist Widerstand unsere Pflicht!